Der Panbabylonismus war eine Strömung innerhalb der deutschen Altorientalistik Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Als ihre Hauptvertreter gelten Hugo Winckler, Fritz Hommel, Eduard Stucken und Alfred Jeremias. Teilweise, jedoch nicht in allen Punkten, schlossen sich ihnen Friedrich Delitzsch, Peter Jensen und Carl Bezold an.

Die ideologisch-wissenschaftliche Strömung des Panbabylonismus fußte auf der Annahme, dass sich ab dem ersten Drittel des 2. Jahrtausends v. Chr. eine in astralmythischer Gestalt auftretende altorientalische Lehre von Mesopotamien aus über die gesamte Erde verbreitete. Diese kosmologisch-spekulative „Gestirnlehre“ habe andere Kulturen geistig beeinflusst und in ihnen verschiedene Ausprägungen gefunden. So zeigten Kulturen in Ägypten, Alt-Arabien, Elam und Iran, Persien, Indien, China, dem mykenischen Griechenland, Etrurien, Altamerika und dem prähistorischen Europa die gleichen Grundlagen des Geisteslebens, wie sie in Babylon in verhältnismäßig ältester Zeit und in klarster Entwicklung vorgelegen hätten.

Geschichtlicher Abriss

Bereits 1885 versuchte der deutsche Orientalist Fritz Hommel in seinem Buch Geschichte Babyloniens und Assyriens nachzuweisen, „daß die babylonische Kultur älter [ist] als die ägyptische, ja dass letztere in ihren wichtigsten Erscheinungen sogar eine gewisse Abhängigkeit von der babylonischen zeigt, daß mithin die babylonische Kultur mit Fug und Recht die älteste der Welt und zugleich die Mutter aller übrigen Kulturen des Alterthums genannt werden darf.“ Im fünfteiligen Werk Astralmythen der Hebraeer, Babylonier und Aegypter von Eduard Stucken, erschienen 1896 bis 1907, wurden wesentliche Teile der Kulturtheorie des Panbabylonismus ausgearbeitet. So begründete Stucken schon im ersten Teil, dass nach seiner Ansicht die Erzählungen von Abraham auf zwei babylonische Quellen zurückgehen, die Etana-Legende und die Höllenfahrt der Ištar.

Mit seiner programmatischen Schrift Himmels- und Weltenbild der Babylonier als Grundlage der Weltanschauung und Mythologie aller Völker von 1901 (erschienen in Der alte Orient, 3. Jahrgang, Heft 2/3, herausgegeben von der Vorderasiatischen Gesellschaft) löste der deutsche Altorientalist Hugo Winckler einen Gelehrtenstreit aus, in dessen Zentrum er stand. Nachfolgende Veröffentlichungen ergänzten seine Darstellungen einer altbabylonischen Weltanschauung, die er jedoch nicht umfassend formulierte. Unterstützung erhielten Wincklers Auffassungen durch einen öffentlichen Vortrag des deutschen Assyriologen Friedrich Delitzsch vor der Deutschen Orient-Gesellschaft am 13. Januar 1902, in dem er die These der babylonischen Wurzeln der jüdischen Religion und des Alten Testaments vertrat (siehe Babel-Bibel-Streit). Ein zweiter Vortrag Delitzschs am 12. Januar 1903 befasste sich mit dem Offenbarungsgehalt des Alten Testaments. Im Jahr 1906 zog der deutsche Altorientalist Peter Jensen in seinem Buch Das Gilgamesch-Epos in der Weltliteratur ähnliche Schlussfolgerungen, bei denen er alttestamentliche Gestalten bis zu Jesus und Paulus als israelitische Gilgamesch-Sagen deutete.

Hugo Winckler hatte schon im zweiten Band seiner Geschichte Israels in Einzeldarstellungen von 1900 Zusammenhänge von Figuren der Bibel mit anderen aus Mythen des gesamten Orients hergestellt. Seine Weiterentwicklung zum Panbabylonismus 1901 wurde vom deutschen Religionshistoriker und Altorientalisten Alfred Jeremias 1904 in seinem Werk Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients aufgegriffen, das bereits 1906 in zweiter erweiterter Auflage erschien. Im Gegensatz zu Winckler, verstärkt nach dessen Tod 1913, sah Jeremias nicht die Babylonier, sondern die Sumerer als ursprüngliche Kulturschöpfer an. In Band 4 des Handwörterbuchs Religion in Geschichte und Gegenwart von 1930 (Sp. 879) definierte Jeremias den Panbabylonismus wie folgt:

Die These der Herkunft aller Mythologie aus Babylon (bzw. Sumer), wie sie beim Mythenvergleich allein von Winckler und Jeremias vertreten wurde und von der sich Stucken später mehr und mehr abwandte, gab Anlass zu heftigen Polemiken. In einem Vortrag im Mai 1902 wandte sich der deutsche evangelische Theologe und Alttestamentler Karl Budde gegen die Auffassungen Wincklers, wobei er das Geusenwort Panbabylonismus prägte, das die Vertreter der Strömung dann selbst benutzten. Den Angriffen Friedrich Küchlers und Hugo Gressmanns antwortete Winckler in seinem Buch Die jüngsten Kämpfer wider den Panbabylonismus von 1907. Winckler ärgerte sich, dass seine Gegner „junge Männer ins Feuer schickt[en]“, denen die Tragweite der Argumentation nicht bewusst war.

Zum ausgeprägtesten Kritiker des Panbabylonismus entwickelte sich der deutsche Mathematiker, Astronomiehistoriker und Assyriologe Franz Xaver Kugler. Als Jesuit basierten Kuglers Motivation und seine Begründungen auf der christlichen Religion. Er war bemüht, theologische Lehrmeinungen und naturwissenschaftliche Astronomie miteinander in Einklang zu bringen. So stellte er 1910 in seinem Buch Im Bannkreis Babels „panbabylonistische Konstruktionen religionsgeschichtlichen Tatsachen“ gegenüber, um Winckler und Jeremias zu widerlegen. Zu den Gegnern des Panbabylonismus zählte auch der deutsche Althistoriker, Ägyptologe und Altorientalist Eduard Meyer. Im ersten Band seiner Geschichte des Altertums schreibt er:

Nach dem Tod Hugo Wincklers 1913 und der Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg verschwand der Panbabylonismus aus dem wissenschaftlichen Diskurs. Zwar wurden das Handbuch der altorientalischen Geisteskultur und Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients von Alfred Jeremias 1929 und 1930 neu aufgelegt, denen noch zwei kleinere Abhandlungen zur religions- und kulturgeschichtlichen Bedeutung der sumerischen Kultur folgten, doch trat in letzteren die Astralmythologie merklich in den Hintergrund. Die Ausgrabungen Robert Koldeweys in Babylon hatten für Jeremias gegenüber den vor allem auf die Urzeit der sumerischen Kultur verweisenden Tontafeln mit Texten keine besondere Wichtigkeit.

Heute trägt der Panbabylonismus das Stigma wissenschaftlicher Fragwürdigkeit. Die Arbeit der Panbabylonier, die intellektuelle mesopotamische Kultur mit der Außenwelt zu korrelieren, wurde nicht nur nicht fortgesetzt, sondern weitgehend vergessen. Selbst in der Folge von jüngsten sachlichen Berichten zum Babel-Bibel-Streit wurden ihre Hauptthesen in den letzten Jahrzehnten lächerlich gemacht, effektiv abgelehnt oder auf den Kopf gestellt. Dessen ungeachtet kam der finnische Assyriologe Simo Parpola 2001 zu dem Ergebnis, dass die Panbabylonier die Anforderungen einer interdisziplinären Kompetenz, eines guten kritischen Urteilsvermögens und einer fundierten Methodik als Erfordernisse interkultureller Studien weitaus besser erfüllten als die meisten ihrer Kritiker. Die zentrale Behauptung der Panbabylonier, dass mesopotamische Ideen, Kenntnisse und Denksysteme seit frühesten Zeiten in der antiken Welt weit verbreitet waren, sei inzwischen eine fest etablierte Tatsache geworden und kann heute vielfach dokumentiert werden.

Literatur

  • Hugo Winckler: Die babylonische Kultur in ihren Beziehungen zur unsrigen. Teil II. Eduard Pfeiffer, Leipzig 1900 (Digitalisat). 
  • Hugo Winckler: Altorientalische Forschungen. Dritte Reihe, Band I. Eduard Pfeiffer, Leipzig 1902 (Digitalisat). 
  • Hugo Winckler: Abraham als Babylonier, Joseph als Ägypter: Der weltgeschichtliche Hintergrund der biblischen Vätergeschichten. J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung, Leipzig 1903 (Digitalisat). 
  • Alfred Jeremias: Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients. J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung, Leipzig 1904 (Digitalisat). 
  • Alfred Jeremias: Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients. Zweite neu bearbeitete Auflage. J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung, Leipzig 1906 (Digitalisat). 
  • Alfred Jeremias: Die Panbabylonisten, der alte Orient und die aegyptische Religion. In: Alfred Jeremias, Hugo Winckler (Hrsg.): Im Kampfe um den alten Orient. Band 1. J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung, Leipzig 1907 (Digitalisat). 
  • Hugo Winckler: Die jüngsten Kämpfer wider den Panbabylonismus. In: Alfred Jeremias, Hugo Winckler (Hrsg.): Im Kampfe um den alten Orient. Band 2. J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung, Leipzig 1907 (Digitalisat). 
  • Franz Xaver Kugler: Entwicklung der babylonischen Planetenkunde von ihren Anfängen bis auf Christus. In: Sternkunde und Sterndienst in Babel. Band 1. Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung, Münster in Westfalen 1907 (Digitalisat). 
  • Alfred Jeremias: Das Alter der babylonischen Astronomie. J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung, Leipzig 1909 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche). 
  • Franz Xaver Kugler: Auf den Trümmern des Panbabylonismus. In: Anthropos. Band 4, Heft 2. Anthropos-Institut, 1909, S. 477–499, JSTOR:40442413. 
  • Hugo Gressmann, Arthur Ungnad, Hermann Ranke (Hrsg.): Altorientalische Texte und Bilder zum Alten Testamente. Erster Band: Texte. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1909 (Digitalisat). 
  • Franz Xaver Kugler: Natur, Mythus und Geschichte als Grundlagen babylonischer Zeitordnung. In: Sternkunde und Sterndienst in Babel. Band 2. Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung, Münster in Westfalen 1910 (Digitalisat). 
  • Franz Xaver Kugler: Im Bannkreis Babels. Panbabylonistische Konstruktionen und religionsgeschichtliche Tatsachen. Aschendorffsche Buchhandlung, Münster in Westfalen 1910 (Digitalisat). 
  • Franz Xaver Kugler: Astronomie und Chronologie der älteren Zeit. In: Sternkunde und Sterndienst in Babel: Ergänzungen zum ersten und zweiten Buch. Band 1. Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung, Münster in Westfalen 1913 (Digitalisat). 
  • Alfred Jeremias: Handbuch der altorientalischen Geisteskultur. J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung, Leipzig 1913 (Digitalisat). 
  • Franz Xaver Kugler: Sternkunde und Chronologie der älteren Zeit. In: Sternkunde und Sterndienst in Babel: Ergänzungen zum ersten und zweiten Buch. Band 2. Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung, Münster in Westfalen 1914 (Digitalisat). 
  • Johann Schaumberger: Sternkunde und Sterndienst in Babel: Ergänzungsheft zum ersten und zweiten Buch. In: Franz Xaver Kugler (Hrsg.): Sternkunde und Sterndienst in Babel. Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung, Münster in Westfalen 1935 (Digitalisat). 
  • Simo Parpola: Back to Delitzsch and Jeremias. The Relevance of the Pan-Babylonian School to the Melammu Project. In: School of Oriental Studies and the Development of Modern Historiography. Proceedings of the Fourth Annual Symposium of the Assyrian and Babylonian Intellectual Heritage Project. Held in Ravenna, Italy, October 13–17, 2001 (= Antonio Panaino, Andrea Piras [Hrsg.]: Melammu Symposia 4). Università di Bologna & Islao, Mailand 2004, ISBN 88-8483-206-3, S. 237–247 (englisch, helsinki.fi [PDF; 257 kB]). 
  • Sergei Stadnikov: Die Bedeutung des Alten Orients für deutsches Denken: Skizzen aus dem Zeitraum 1871-1945. Propylaeum, Heidelberg 2007 (uni-heidelberg.de [PDF; 240 kB]). 
  • Michael Weichenhan: Der Panbabylonismus. Die Faszination des himmlischen Buches im Zeitalter der Zivilisation. Frank & Timme, Berlin 2016, ISBN 978-3-7329-0219-4 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche). 

Einzelnachweise

Weblinks

  • Livio C. Stecchini: Auf den Trümmern des Panbabylonismus. In: Die Velikovsky Affäre. Alfred de Grazia, 20. Januar 2007, abgerufen am 10. Dezember 2017. 
  • John A. Brinkman: Panbabylonism. New Catholic Encyclopedia, 2003, abgerufen am 10. Dezember 2017 (englisch). 
  • Gary D. Thompson: The Development, Heyday, and Demise of Panbabylonism. 2017, abgerufen am 10. Dezember 2017 (englisch). 

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